Wie ist Indien wirklich zwischen Boom Town, Bollywood und Dritte Welt? Diese Frage beschäftigte mich schon seit einiger Zeit und im März 2007 hatte ich endlich die Gelegenheit, mir vor Ort ein Bild davon zu machen.
Meine Reise begann in Chennai (früher Madras) und führte mich entlang des Golfs von Bengalen bis zur Südspitze am Indischen Ozean und von dort am Arabischen Meer entlang nach Bangalore. Es waren über 2000 km durch ein Land voll bedrückender Armut, wunderschöner Landschaften und unglaublich freundlicher Menschen.
Ich hatte mich gut auf meine Reise vorbereitet und viele Informationen über Land und Leute gelesen. Doch vor Ort musste ich feststellen, dass man sich auf die indische Realität nicht wirklich vorbereiten kann. So gibt es zum Beispiel eine demokratische Gesetzgebung, aber diese spiegelt sich kaum in der Wirklichkeit wider. Frauen sind nicht gleichberechtigt, sondern werden diskriminiert und die Ausgrenzung von Dalits (Unberührbare) ist leider immer noch die Norm.
Auch mit der schönen bunten Welt von Bollywood hat die indische Wirklichkeit nichts gemein. Es gibt keine Helden, die scheue Mädchen umwerben und beschützen. Nein, Indien ist eine reine Männerwelt, in der Mädchen und Frauen nicht viel wert sind. Junge Mädchen werden von ihren Familien verheiratet und Liebesheiraten sind auch in Großstätten eher eine Ausnahme. Die Mädchen werden von ihren Eltern als eine Art Leihgabe betrachtet, die irgendwann in ihre richtige Familie, sprich zu den Schwiegereltern, weitergereicht wird. Den Mann, an den sie verheiratet werden, haben sie, wenn überhaupt, nur einmal vorher gesehen. Ihre größte Furcht stellen die Schwiegereltern dar, ganz speziell die Schwiegermutter, denn mit ihnen wird die junge Frau nach der Hochzeit die meiste Zeit ihres Lebens verbringen. Aus dieser Sichtweise und mit diesem Hintergrund ist es sehr gut zu verstehen, warum indische Bräute so herzergreifend weinen bei ihrer Hochzeit.
Obwohl ich wusste, dass es die falsche Art von Mitgefühl ist, fiel es mir auch sehr schwer, den bettelnden Kinder zu widerstehen und ihnen kein Geld zu geben. Kinderbettelei ist überwiegend organisiert und hilft diesen Kindern nicht. Sie werden sogar häufig vorsätzlich verstümmelt, damit sie mehr Mitleid erregen. Solange Kinderbettelei ein gutes Geschäft ist, wird sich für diese Kinder nichts ändern. Ich habe immer Bleistifte, Bonbons, Luftballons usw. an die Kinder verteilt und musste dabei feststellen, dass die Mädchen von den Jungen weggedrängt wurden. Bei der kleinen Bettlerin Neelam (Bild links), die ich auf einem Tempelgelände traf, habe ich beobachtet, dass sie Bonbons und Bleistifte abgenommen bekam und wieder auf uns angesetzt wurde, um Geld zu erbetteln.
Einer meiner persönlichen Reisehöhepunkte war der Besuch eines Plan-Projektes in Mysore. Seit der Gründung meiner Aktionsgruppe Remscheid sind an den Infoständen viele Fragen an mich gerichtet worden, denen ich jetzt auf den Grund gehen wollte. Was genau geschieht mit dem Geld? Kindorientierte Projektarbeit, wie sieht das in der Praxis aus? Was bedeutet eine Patenschaft für die Menschen und vor allen Dingen für die Kinder vor Ort?
Vor knapp zwei Jahren hatte ich mein Patenkind Roxanna in Peru besucht und bei diesem Besuch war nur sie wichtig für mich, so dass für die Arbeit von Plan vor Ort keine Zeit mehr blieb. Meinen Indienbesuch wollte ich daher auch nutzen, um einen Einblick in die Arbeit der Plan-Mitarbeiter zu bekommen.
Zwei Tage vor meinem Heimflug war es dann endlich soweit. Morgens um 9:00 Uhr wurde ich von Ms. Pushpa (zweite von links im Bild oben), meiner PLAN-Begleiterin abgeholt. Zuerst fuhren wir zum District-Office, wo ich von dem Manager Mr. Wiliam D´souza begrüßt und über das Programm des Tages informiert wurde. Da vom District-Office sieben Projektgebiete betreut werden, wurden zwei näher liegende Projektgebiete für meinen Besuch ausgewählt.
Unsere erste Station war Kalale, wo der Manager Mr. Rajanna und Ms. Pushpa mir anhand einer Präsentation die Strukturen und Planungen von Plan Myrada erklärten. Danach begann der für mich schönste Teil des Tages. Zuerst besuchten wir zwei Kindergärten, wo sich Kindergärtnerinnen und Mütter liebevoll um die 3 – 6-Jährigen kümmerten. Hier lernen die Kleinen z. B. die Grundkenntnisse von Hygiene. Noch immer ist die Kindersterblichkeit sehr hoch, da sauberes Wasser und Toiletten nicht selbstverständlich sind. Ein wichtiger Punkt in der Planung von Plan-Myrada ist dementsprechend natürlich auch die Wasserversorgung für alle Kindergärten und Schulen. Für die Kleinen war ich wohl so etwas wie ein Außerirdischer, denn mit riesengroßen Augen staunten sie mich. Ein kleines Mädchen fing bei meinem Anblick an zu weinen und war auch von der Mutter kaum zu beruhigen.
Als nächstes besuchten wir zwei Schulen. Für mich war es sehr schön zu sehen, dass Mädchen und Jungen gemeinsam fröhlich drängelten, um auf ein Foto zu kommen und kein Junge versuchte ein Mädchen zu verdrängen. Die Kinder werden hier, egal ob Junge, Mädchen oder gesponsertes Kind in erster Linie als Kinder betrachtet. Kommt es doch einmal zu Diskriminierungen, schalten sich Lehrer und auch Plan-Mitarbeiter sofort ein und klären solche Fälle bis ins Elternhaus hinein. Auch um fehlende Kinder in der Schule kümmern sich die Mitarbeiter und versuchen, die Eltern von der Wichtigkeit der Ausbildung zu überzeugen.
Sehr beeindruckt hat mich das Kinderparlament und der Childrens-Club. Die Kinder beteiligen sich hier aktiv an der Planung und Gestaltung ihres Umfeldes und ihrer Umwelt und ihre Meinungen werden auch respektiert. Dieses Gefühl, ernst genommen zu werden und etwas ausrichten zu können, spiegelt sich im Verhalten und vor allem auch in dem lebendigen Ausdruck in den Augen der Kinder wider. Im Gegensatz zu den organisiert zum Betteln gezwungenen Kindern konnte ich hier einen geradezu optimistischen Ausdruck wahrnehmen, der mich überzeugte, dass hier der richtige Weg in eine hoffnungsvollere Zukunft gegangen wird.
Unsere nächste Station war ein Frauenhilfsprojekt. Dort werden Frauen zur Schneiderin oder zur Nähmaschinen-Mechanikerin ausgebildet. Nach der Ausbildung können sie über einen Kleinkredit dann selbstständig arbeiten und zum Familieneinkommen beitragen. Plan-Myrada arbeitet auch mit der Gameen-Bank zusammen, die in ganz Indien Frauenprojekte unterstützten.
Nach einem kurzen Zwischenstopp bei der Familie von Ms. Pushpa, wo ich die Gelegenheit hatte einen indischen Haushalt kennen zu lernen, fuhren wir dann unsere letzte Station, Kadakola, an, um ein weiteres Frauenprojekt zu besuchen. Mr. Basavanna, der Manager, begrüßte uns und erklärte uns anhand einer Präsentation die vielfältigen Aufgaben des Projekts.
Danach saßen wir in einem großen Kreis und die teilnehmenden Frauen stellten sich und ihre Aufgaben vor. In Kadakola werden Kurse für Babypflege, Hygiene, Mütterberatung, gesunde Ernährung, Computerarbeit und vieles mehr gegeben. Der Childrens-Club trifft hier zusammen. Frauen werden ausgebildet in Kunsthandwerk, Näherei und vielem mehr. Wenn diese Frauen morgens ihre Hausarbeit erledigt haben und ins Projektgebäude gehen, haben sie ein Stückchen eigenes Leben und können für eine Weile Ehe oder kommende Hochzeit vergessen. Durch ihre Arbeit gewinnen sie mehr Selbstbewusstsein und steigen natürlich auch in ihren Familien in der Wertigkeit. Auch die Kinder haben nach Abschluss der Schule die Möglichkeit eine Ausbildung zu machen.
Da Inder überaus gastfreundlich sind, durfte ich natürlich nicht ohne etwas zu essen die Runde verlassen. Eine Ablehnung kam nicht in Frage und so nahm ich das dritte Mittagessen an diesem Tage zu mir und hoffte, dass ich noch in einen Flugzeugsitz passen würde auf dem Heimflug. Die Frauen hatten extra für mich gekocht und alles so liebevoll zubereitet, dass ich auf keinen Fall hätte Nein sagen können.
Zusammenfassend war es ein sehr schöner Tag für mich und mit solch einer Fülle an Informationen und Eindrücken hatte ich nicht gerechnet. Diese wiederzugeben, umfassend zu schildern, was ich alles gesehen und erlebt habe, ist nicht ansatzweise möglich. Ich denke, dass dank der engagierten Arbeit der dortigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter schon viel geschafft wurde, aber auch noch ein weiter Weg vor ihnen liegt.
Mein Dank geht vor allem an Ms. Puspha, aber auch an alle anderen Plan-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die mir so viele Fragen beantwort haben – sogar manche, die ich nicht gestellt hatte.